: Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?. Freiburg 2012 : Herder Verlag, ISBN 978-3-451-32384-3 200 S.

Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.): Kirche in der ambivalenten Moderne. . Freiburg 2012 : Herder Verlag, ISBN 978-3-451-34134-2 366 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Staf Hellemans

Franz-Xaver Kaufmann (°1932) ist, mit Thomas Luckmann, der Doyen der Religionssoziologie im deutschsprachigen Raum. Wie Luckmann hat er nicht nur über Religion geschrieben. Kaufmann war in Bielefeld von der Gründung der Universität in 1969 bis zu seiner Emeritierung in 1997 Professor für Sozialpolitik und Soziologie. Er publizierte also in erster Linie über Sozialpolitik (siehe z.B. Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, 2003), aber auch über Demographie (Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, 2005) und Familiensoziologie (u.a. Zukunft der Familie, 1990). Daneben schrieb er regelmäßig über Religion und katholische Kirche (siehe vor allem Kirche begreifen, 1979 und Religion und Modernität, 1989), in den letzten Jahren sogar besonders viel (die Webseite der Uni Bielefeld gibt die Publikationsliste bis 2012 wieder, siehe www.uni-biele-feld.de/soz/per¬so¬nen/kauf¬mann/index.html).

Charakteristisch für Kaufmann ist sein von Anfang bis heute durchgehaltener Entschluss, möglichst nicht abstrakt über Religion und Moderne zu reden – er geht z.B. nicht auf die Säkularisierungsdebatte ein –, sondern die Christentums- und Kirchengeschichte in der Moderne, also die konkreten, vor allem katholischen, Sozialformen des Christentums ins Mittelpunkt zu stellen. Er versucht dabei stets religiöse Vorgänge mit gesellschaftlichen Entwicklungen zu verbinden. So betont er den zunehmenden Organisationsgrad des Christentums in den vergangenen Jahrhunderten – was er Verkirchlichung nennt – und er interpretiert diese als «die strukturkonforme Antwort auf die gesellschaftlichen Entwicklungen der Neuzeit» (1979: 68). Diese historisch-soziologische Vorgehensweise macht Kaufmann für Historiker besonders interessant.

Wer noch nichts von Kaufmann gelesen hat, fängt am besten mit der kleinen, aber feinen Monographie Kirchenkrise (2011) an, die um ein Drittel erweiterte Neuauflage des Buches Wie überlebt das Christentum? (2000). Die großen Themen im Werk Kaufmanns werden hier kurz und klar angesprochen. Erstens, der Beitrag des Christentum zur Entstehung der Moderne. Sowohl die Idee der Freiheit und der individuellen Person als die beginnende funktionale Differenzierung der Gesellschaft sieht Kaufmann eng verbunden mit der Christentumsgeschichte im Mittelalter. Die zweite große These ist die Verkirchlichung. Wie schon ausführlich in seinem Buch Kirche begreifen (1979) dargelegt, zeigt Kaufmann die fortschreitende Organisierung des Christentums in Kirchen im Zuge der Neuzeit, eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert erreicht. Drittens, die Kirchenkrise seit den 1960er Jahren. Dahinter steckt eine wohl sehr fundamentale Frage: (wie) kann eine organisierte Religion heute unter völlig veränderten Bedingungen gesellschaftlicher Integration noch die Glaubenstradierung gewährleisten? Fast die Hälfte des Buches ist dieser dritten Frage, und insbesondere der Analyse der Kirchenkrise im letztem Jahrzehnt, gewidmet. Seine Analyse ist scharf. Er bezeichnet die Kirchenhierarchie als «pathogen» (166) und schreibt dass die Kirchen (in Deutschland) «den Kontakt zur ‹Seele› der meisten Menschen verloren zu haben scheinen» (172). Sein Fazit: die katholische Kirche ist «krank, aber überlebensfähig» (170).

Kirche in der ambivalenten Moderne (2012), eine Sammlung von Aufsätzen, argumentiert theoretischer als Kirchenkrise. Das Buch gibt vor allem näheren Aufschluss über das Verhältnis der katholischen Kirche zur postmodernen Moderne, i.e. die Zeit seit 1960. Die beiden ersten Aufsätze erhellen, nun in theoretischer Hinsicht, das ambivalente Verhältnis Kirche-Moderne. Kaufmann unterscheidet gesellschaftliche Modernisierung, an deren Prozesse die katholische Kirche partizipiert (z.B. Verkirchlichung) und kulturelle Modernität, die Hochwertung des jeweils Neuen, dass die Kirche zu schaffen macht. Im Licht dieses Spannungsverhältnisses werden unterschiedliche Themen diskutiert, wie das Zweite Vatikanische Konzil (als Paradebeispiel einer Modernisierung des Katholizismus), der Römischen Zentralismus, die Bischofskonferenz, die Theologie und, fast unausweichlich, die Kirchenkrise. Kaufmann unterscheidet hier vier Dimensionen: die Missbrauchskrise, die pastorale Krise (die Erosion der Gemeinden), die Strukturkrise (die Organisation der Kirche) und die Glaubenskrise. Die drei Schlussaufsätze sind der Zukunftsfähigkeit des Christentums gewidmet. Kaufmann ist erfahren genug um zuzu¬gestehen, dass diese Frage «im strengen Sinne unbeantwortbar» ist, fügt aber sogleich hinzu, wie sie dennoch zu umkreisen sei: «Sie setzt [...] den für die Vergangenheit charakteristischen engen Zusammenhang zwischen Religion, Kirche und Christentum voraus», um dann die Leitidee für die Diskussion mitzugeben: «es spricht [...] vieles dafür, dass sich eben dieser engen Zusammen¬hang gegenwärtig lockert» (261). Er schließt dann auch mit Kardinal Walter Kasper, mit dem Kaufmann sich nahe verwandt fühlt: «Die tiefere Ursache (scil. der Kirchenkrise) besteht darin, dass eine Epoche der Kirchengeschichte zu Ende geht, ohne dass schon neue Horizonte, wie es weiter gehen soll, deutlich sichtbar sind» (Kasper, Katholische Kirche, 2011, zitiert S. 294).

Das dritte Buch, Soziologie und Sozialethik (2013), dass moralsoziologische Aufsätze von 1966 bis 2012 sammelt, berührt ebenfalls Fragen der Kirchen- und Religionsgeschichte. Kaufmanns Hauptidee, die alle Aufsätze verbindet, lautet, dass die funktionale Differenzierung und die Ebenendifferenzierung der modernen Gesellschaft ethische Einheitsvorstellungen von Gesellschaft und Person und direkte Schlüsse von ethischen Werten auf konkrete Handlungen nicht mehr zulassen – vorzüglich herausgearbeitet in der Einführung des Bandes durch den Herausgeber Stephan Goertz. Die Aufsätze sind in drei großen (plus drei kleinen) Abschnitten untergebracht: gesellschaftliche Wertideen (wie Solidarität, Verantwortung, Sicherheit, Freiheit, Menschenwürde), Ehe und Familie und Christentum und Moral. In mehreren Aufsätze wird das katholische Naturrechtsdenken unter Kritik gestellt (siehe vor allem «Die Ehe in sozialanthropologischer Sicht» aus 1966 und das hervorragende und für Historiker höchst relevante Kapitel «Wissenssoziologische Überlegungen zu Renaissance und Niedergang des Katholischen Naturrechtsdenkens im 19. und 20. Jahrhundert» aus 1973). Gegen diejenigen, die Werte dann mal einfach abschreiben, stellt Kaufmann, dass Werte noch immer orientieren und zwar als «Heuristiken der Beurteilung konkreter Strukturen oder Situationen» (373). Die Reflexion über die kontingente Verbindung von Werten, Situation und Entscheidung fragt also nach einer kontextuellen Ethik (siehe u.a. die Aufsätze «Was hält die Gesellschaft heute zusammen?» aus 1999 und «Die Herausforderung christlicher Sozialethik durch moderne Gesellschaftstheorie» aus 1996).

Zwischen Wissenschaft und Glauben (2014) präsentiert, wie der Untertitel sagt, persönliche Texte in lockerem, autobiographischem Stil. Wer herausfinden will, in welchen (religiösen) Verhältnisse Kaufmann aufgewachsen ist, wie er zur Soziologie fand und als Schweizer nach Deutschland kam, welche Reize sogar die Provinzstadt Bielefeld hat, ist hier am rechten Platz. Insbesondere möchte ich zwei Aufsätze empfehlen: «Was mir das Zweite Vatikanische Konzil bedeutet» – es zeigt schön, wie sehr das Konzil für Kaufmann und seine Generation als ein Leuchtfeuer gewirkt hat – und «Leben zwischen Glauben und Wissenschaft» – worin die Kreuzungen «der Soziologe und seine(r) Kirche» (165) nachgegangen werden.

Christentum – Moderne – Politik (2014), herausgegeben von Stephan Goertz und Hermann-Josef Große Kracht, schließlich präsentiert «Versuch(e), das Lebenswerk von Franz-Xaver Kaufmann zu würdigen» (177) – so die treffende Charakterisierung der Aufsätze durch Ernst-Wolfgang Böckenförde. Die drei großen Arbeitsgebiete Kaufmanns, Sozialpolitik, Familien- und Religionssoziologie, werden behandelt, mit Religionssoziologie an erster Stelle. Karl Gabriel, sein bedeutendster Schüler, überblickt kurz das ganze Feld. Der Historiker Claus Arnold zeigt, wie die um 1960 weit entfernte Gebiete, Kirchengeschichte und Sozialwissenschaften, u.a. dank Kaufmann einander näher gekommen sind. Der umfangreichsten und weiterführendsten Aufsatz ist von Hartmann Tyrell beigesteuert worden. Er führt den Leser in die Geburtsschmiede der Kaufmannschen Religionssoziologie: das Gespräch mit Joachim Matthes und Niklas Luhmann an der jungen Fakultät für Soziologie in Bielefeld in den frühen 1970er Jahren. Der Einfluss Luhmanns ist wohlbekannt und im Werk Kaufmanns in vielen Referenzen leicht erkennbar. Aber vorgezeichnet zu bekommen, wie Kaufmann insbesondere die Kritik von Matthes auf die protestantisch geprägte Religionssoziologie und Säkularisierungstheologie kreativ aufgenommen und zu einer Soziologie des katholischen Christentums weiterentwickelt hat, ist sehr aufschlussreich.

Zitierweise:
Staf Hellemans: Rezension zu: Franz-Xaver Kaufmann, Kirchenkrise. Wie überlebt das Christentum?, Herder, Freiburg i. Br., 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 472-472.